6. September 2021

„Der neue Glücksspielstaatsvertrag ist eine Farce, er öffnet Einfallstore zur Sucht“

Fachberater des Roten Kreuzes fürchten ein Fass ohne Boden

Als einen Schlag ins Gesicht der Betroffenen mit deutlichem Arbeitsauftrag für die Prävention bezeichnet Sozialarbeiter Horst Weigel vom Deutschen Roten Kreuz im Odenwaldkreis die Neuauflage des Glücksspielstaatsvertrags, der seit Juli für in Deutschland lizensierte Anbieter gilt. Denn nun darf in Rundfunk und Fernsehen offen für das Spiel mit dem Glück geworben werden. Dies füttere Gefährdete an und verleite Süchtige zum immer tieferen Einstieg in den fatalen Kreislauf der Abhängigkeit. 

„Dabei ist das Ganze eine Farce, denn Gewinner ist immer der Anbieter. Selbst wenn Profis gegen von der Materie unbeleckte Menschen antreten, ist es der Zufall, der den Ausgang des Spiels entscheidet“, sagt dessen Kollegin Ilona Sabisch, die im Kreisverband des DRK im Auftrag der Prisma-Suchthilfe abhängige und gefährdete Menschen zum Thema Glücksspiel berät. „Die Erkrankung ist kein Spaß. Immer tiefer können Betroffene ins soziale Abseits geraten und im Extremfall Symptome wie von stoffgebundenen Suchtmitteln Abhängige zeigen.“, weiß die Fachfrau. So kann  der psychische Entzug Nervosität, Schwitzen und Zittern der Hände auslösen. 

Sogar Live-Wetten in laufenden Sportereignissen sind jetzt erlaubt. Begründet wird die Änderung des Staatsvertrages unter anderem mit dem Spieltrieb der Menschen und einer angestrebten besseren Kontrolle. Dabei sei mit einem Tätigwerden der Aufsichtsbehörde erst in zwei Jahren zu rechnen. „Soweit möglich, sind Minderjährige als Empfänger von Werbung auszunehmen“, zitiert Weigel aus dem Werk und fragt sich, wie das gehen soll? Denn Werbung dürfe sich nicht an Jugendliche und Gefährdete richten. „Für uns ist dies eine sehr unglückliche Regelung “, bekunden Sabisch und Weigel unisono. 

So seien bei Online-Spielen lediglich die Volljährigkeit und das Geburtsdatum anzugeben. Ohne Nachweis durch den gültigen Personalausweis. Dies in die Vorgaben zu installieren, dürfe heutzutage aber kein Problem darstellen, finden die beiden Berater. 

Und wie sieht es mit den Spielautomaten in Gaststätten aus? „Da liegt die Verantwortung beim Aufsteller. Das muss nicht der Gastronom vor Ort sein. Somit entfällt für diesen jegliche Pflicht zur Alterskontrolle“, erklärt Horst Weigel. Bisher nicht legale Glücksspiele im Internet, also Online-Poker, Online-Casinos oder auch Online-Automatenspiele sind jetzt unter gewissen Auflagen erlaubt. Zuvor durfte man diese nur in Schleswig-Holstein betreiben, nun haben alle 16 Bundesländer den Freibrief erhalten. 

Kritiker monieren zudem, dass bei der Ausarbeitung die Fachverbände und Suchtexperten nur sporadisch eingebunden waren. „Ab Juli 2021 kann in ganz Deutschland ohne schlechtes Gewissen völlig legal gezockt werden“, fasst die Pforzheimer Zeitung die sich anbahnende Misere zusammen. „Damit holt man die Branche zwar aus der Illegalität, nickt damit aber einen Suchtfaktor wohlwollend ab. Das sollte man sich mal mit anderen weichen Drogen erlauben. Denn auch das Glücksspiel ist ähnlich anzusehen und in seiner Gefahr auch so zu bewerten“, merken Weigel und Sabisch an. 

„Die ständige Verfügbarkeit des Angebots erhöht das Suchtrisiko“, bringt Konrad Landgraf, Geschäftsführer der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern, das Dilemma auf den Punkt. „Schätzungen zufolge leiden in Deutschland rund eine halbe Million Menschen an problematischem oder pathologischem Glücksspiel. Hinzu kämen laut Betroffenenbeirat pro betroffenem Spieler fünf bis zehn Angehörige, die ebenso wirtschaftliche, soziale und psychische Negativauswirkungen der Sucht zu tragen hätten“, resümiert Redakteurin Sabine Löwenberger im Internetportal Casino-Online. 

Es wird vor einem „unübersehbaren, unkontrollierten, dem Spielerschutz entgegenstehenden Angebot von Online-Glücksspielen“ gewarnt. „Glücksspiel ist riskant und darf nicht verharmlost werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass es zum Lebensalltag hinzugehört“, warnt Susanne Schmitt, Geschäftsführerin der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HSG), vor der jetzt gängigen Praxis. Sie spricht sich dafür aus, dass Werbung für Online-Glücksspiel ganz verboten wird. Denn dieses sei rund um die Uhr und ohne soziale Kontrolle möglich. Schmitt sieht reichlich Arbeit auf die 15 Beratungsstellen in Hessen zukommen. 

„Wir prognostizieren diesem Sektor nun noch bessere Wachstumschancen zum Leidwesen der Betroffenen und deren Angehörigen“ diagnostizieren Weigel und Sabisch, die in der Neufassung des Staatsvertrages eine Aufweichung desselben mit Einfallstoren für eine Ausweitung der Suchtgefährdung sehen.